Aus der Sicht der Medien versinkt die Welt gerade im Chaos. Die Ukraine wird seit mehr als zwei Jahre vom Aggressor Russland unter Beschuss gehalten, im Gaza-Streifen starben infolge der israelischen Militäroperation tausende Menschen und in Amerika könnte Ende 2024 erstmals ein Präsident gewählt werden, der als Krimineller mindestens in einem Verfahren schuldig gesprochen wurde.
Dauerkrise Flüchtlingspolitik
Noch mehr schlechte Nachrichten? Nein, danke! Und dennoch zeigen die oben genannten Krisen, wie schnelllebig die Medienlandschaft, wie schnelllebig unsere Gesellschaft und wie vergesslich die Menschheit ist. Noch 2015 war das Thema Flüchtlinge allgegenwärtig. Auch in den Jahren danach sahen viele Politiker die Flüchtlingsproblematik als dringendste Angelegenheit der Europäer, als die größte Herausforderung für den Kontinent. Wie auch immer diese Politiker das Problem angehen wollten: Bis heute hat man nicht annähernd eine Antwort auf die Frage gefunden, wie man den Zuzug von Flüchtlingen auf europäischer Ebene gemeinsam löst und gleichzeitig die Menschen, die auf der Suche nach Sicherheit sind, nicht vergisst bzw. integriert und Schutz bietet.
Einblicke in die Arbeit über Europas größtem und tiefsten Massenfriedhof
Das Mittelmeer ist der größte und tiefste Friedhof Europas. Wenn eine Überschrift den Besuch von Arif Abdullah Haidary und Manos Radisoglou inhaltlich trifft, dann diese. Auf Einladung von Ethik-Lehrkraft Katharina Becker waren beide einen Vormittag zu Gast an der Realschule im Blauen Land, um unseren 9. Klassen einen beeindruckenden Vortrag über die Flüchtlingssituation auf dem Mittelmeer zu liefern. Video und Bilder zeigen Flüchtlinge auf völlig überfüllten Boden, die dort hilflos dem Meer ausgeliefert, von anderen Schiffen in der Nähe ignoriert werden oder von der Küstenwache des Heimatlandes wieder zurückgebracht werden. Manos Radisoglou ist hauptberuflich Fluglotse in München und engagiert sich in seiner Freizeit für die Organisation „Humanitarian Pilots Initiative“, die zusammen mit „Sea-Watch“ im Mittelmeer Flugzeuge fliegt, die Flüchtlingsboote sichtet und versucht, möglichst viele Menschen auf diesem Boot zu retten, indem man auf sie aufmerksam macht. Mit am Tisch sitzt beim Interview Arif Abdullah Haidary. Der 24-Jährige ist beim bayerischen Flüchtlingsrat beschäftigt und kümmert sich dort auch um die Themen Asyl und Zuwanderung. Haidary weiß aus erster Hand, mit welchen Problemen Geflüchtete in Deutschland zu kämpfen haben, da er selbst über Fluchterfahrungen aus Afghanistan besitzt.
Wie Menschen einfach “verloren gehen”
Die Zahlen, die Radisoglou präsentiert, versetzen einen in Schockstarre. Mehr als 160 Mal ist seine Organisation in der Luft gewesen 2023. 311 Boote habe man ausfindig gemacht. Insgesamt über 16 000 Menschen, die den gefährlichen Fluchtweg über das Mittelmeer wählten. „Dabei decken wir nur einen Teil des Mittelmeers ab“, meint Radisoglou. Von mehr als 5500 Menschen wisse man nicht, was mit ihnen passiert sei. Ein Großteil wird wohl nie aufgefunden werden. Kenternde Flüchtlingsboote im Mittelmeer sind Alltag, wie der HPI-Pilot erklärt: „Einige davon sind wohl wieder in ihr Heimatland zurück geschleppt worden, andere haben es irgendwie auf europäisches Festland geschafft, die meisten aber sind wohl im Mittelmeer verloren gegangen.“
Auch die Helfer werden kriminalisiert
Wäre es nur alleine die Katastrophe, die sich tagtäglich auf dem Mittelmeer abspielt, könnte man diese Zahlen und Fakten vielleicht irgendwie ertragen. Viel schlimmer sei aber die Flüchtlingspolitik, die sich in den vergangenen Jahren ständig in Richtung contra Flüchtlinge verändert habe: „Am Anfang, 2015, hieß es noch überall Willkommenskultur. Jetzt siehst du immer mehr Talkshows, in denen auch Ministerpräsidenten klarmachen, dass Geflüchtete eigentlich nicht willkommen sind.“ Haidary weiß, wo von er redet, ist er doch auch mit einem der ersten großen Flüchtlingswellen nach Deutschland gekommen und hat die Entwicklungen am eigenen Leib erfahren. In den Jahren wurden nicht nur Flüchtlinge in Deutschland immer mehr kriminalisiert, sondern auch die Arbeit von denen, die sich für sie einsetzen, wie Haidary berichtet: „Wir hatten zuletzt eine Einladung einer Schule vorliegen, in der wir einen Vortrag halten sollten.“ Da die Kapazitäten für die Masse an Zuhörern von der Schulinfrastruktur nicht mehr gedeckt werden konnte, wollte die Schule in eine größere Halle umziehen, wurde dann aber vom Kreis ausgebremst: „Als der Landrat Wind von der Veranstaltung bekam und hörte, dass wir auch im Auftrag des bayerischen Flüchtlingsrates den Vortrag halten, wurde uns die Location kurzerhand nicht zur Verfügung gestellt.“ Immer öfter werde auch er selber in seiner ehrenamtlichen und politischen Arbeit als „linksextremistisch“ eingestuft. „Da schlägt uns auch viel Hass entgegen, dabei präsentieren wir nur Fakten und machen keine Propaganda.“ Jüngst hat ihn nach einer Folge bei “Hart aber fair” ein regelrechter Shitstorm heimgesucht. Thema der Sendung war die Einführung der Bezahlkarte für Flüchtlinge.
Haidary persönlich hat auch sehr lange gebraucht, bis er ein anerkannter Flüchtling in Deutschland war. “Da werden dir viele Steine in den Weg gelegt.” Er habe eine Ausbildung gemacht, den Meister oben draufgelegt und Deutschland in der Disziplin Karate vertreten. “Ich habe die Verantwortlichen immer gefragt: Was soll ich noch machen?”
Schikane und die Angst vor dem Gefängnis
Auch Radisoglou weiß, wie politisch seine Mission ist und wie kritisch sein Engagement für HPI gesehen wird. Malta hat jüngst seinem Flugzeug keine Landeerlaubnis mehr erteilt, was nach europäischen Recht eigentlich nicht geht. “Privaten Flugzeugen muss eine Landeerlaubnis erteilt werden”, weiß der Pilot. Jüngst kam eine Direktive aus Italien. Man dürfe hier nicht mehr starten. “Die Angst, dass wir nach einem Flug mal landen und direkt in Lampedusa verhaftet werden, schwingt da schon mit. Wenn ich aber wegen so einer Sache mal ins Gefängnis muss, dann tue ich das erhobenen Hauptes.” Er finde es schon etwas “krass”, dass Menschen wie er, die nur Leben retten wollen, auf diese Weise kriminalisiert würden.
Legale Fluchtwege, Asylanträge vor Ort – es gäbe viele Wege aus der Krise
Neben der Problembeschreibung denken Radisoglou und Haidary auch über Lösungswege in der Flüchtlingsfrage nach. Für Haidary sind “legale Fluchtwege” mit ein Weg aus dieser Krise. “Wenn die Leute dann hier in Deutschland ankommen, sollte man sie so schnell wie möglich in Arbeit bringen.” Auch die Unterstützung der Länder, aus denen die Menschen flüchten, sei wichtig. Es müsse eine “Perspektive” geben. Es helfe nichts, eine Mauer zu bauen, sich abzuschotten. Ein weiterer Weg sei, den Menschen in den deutschen Botschaften ihrer Länder die Möglichkeit zu geben, einen Asylantrag zu stellen. “Dann könnten sie sich den gefährlichen Weg übers Mittelmeer sparen”, meint Radisoglou.
Haidary sieht die Bundesrepublik und auch die Bürger in der Pflicht: “Die Sehnsucht nach einem besseren Leben ist auch ein Menschenrecht und das sollten wir diesen Menschen möglich machen.”
(Hannes Bräu)