Landein, landaufwärts wird der große Wandel des Unterrichts hin zu mehr Digitalität, zu mehr Einsatz von Künstlicher Intelligenz gepredigt, gefordert. Schule dürfe sich nicht abhängen lassen, müsse „zukunftsorientiert“ sein. Unterricht am Tablet. Bildschirm an, Bildschirm aus. Auch die Kommunikation zwischen den einzelnen Mitgliedern der Schulfamilie wird wohl immer mehr „entmenschlicht“, läuft teilweise stark über digitale Plattformen ab. Das direkte Gespräch nur noch eine Option unter mehreren – auch am Elternsprechtag.

Die politische Debatte ist „live“

Digitalität erreicht aber dann ihre Grenzen, wenn es um darum geht, im „echten“ Leben schlagfertig zu sein. Längst ist „live“ die neue Realität in einer Welt, in der man nicht mehr sicher sein, was „echt“ ist oder nicht. Speziell politische Debatten leben von ihrer Spontanität, davon, dass man komplexe Sachverhalte einfach beschreibt oder auf nachvollziehbare Argumente auch schlagfertig mit Gegenargumenten antworten kann. Das „Sprechdenken“ ist seit jeher eine Gabe, die trainiert werden will, was allerdings nur gelingt, wenn man echten Menschen gegenübersitzt. Denn Kommunikation ist so viel mehr als nur Rede und Antwort. Ein bedeutender Kommunikationswissenschaftler hat mal den schlauen Satz gesagt: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Maschinen denken schneller als Menschen, aber sie haben kein Charisma, keine nonverbale Kommunikation. Alles, was eine Debatte benötigt, um als solche bezeichnet zu werden.

Schülerinnen und Schüler der Realschule Murnau bei der Debatte zum Thema „Timebomb“ Foto: Bräu

„Timebomb-Szenario“ als Trainingsthema

Grund genug, die Debatte wieder lebhafter in den Unterricht einzubauen – ob im Team oder als Einzelperson. Bereits in den ersten Schulwochen wurde klar, welchen Mehrwert diese Unterrichtsform mit sich bringt. Gerade in den 10. Klassen bieten sich in den Gesellschaftswissenschaften und da vor allem im Fach „Politik und Gesellschaft“ einige Möglichkeiten. Einen beliebten Rahmen dazu stellt das sogenannte „Timebomb-Szenario“ dar. Nachdem die SchülerInnen in den Stunden zuvor in alle Facetten und Eigenschaften eines Rechtsstaates eingeführt wurden, stand dann eine Stunde ganz im Rahmen einer Debatte, die folgende Situation im Mittelpunkt hatte. „Terroristen planen einen Anschlag mit einer Zeitbombe auf eine deutsche Großstadt. Ein mutmaßlicher Terrorist, der wohl in Kenntnis des Bombenplatzes ist, wurde geschnappt.“

Debatte als selbstständiges Regulativ

Die Schülerinnen und Schüler sollten in der Folge um die Frage debattieren, ob der Staat nun Gewalt anwenden dürfe, um das Versteck der Bombe vom gefangenen Terroristen zu erfahren. Dabei fiel in einer ersten Blitzumfrage erst einmal auf: Ein Großteil der Schüler fand es völlig in Ordnung, Folter hier als legitimes Mittel anzuwenden. Es braucht schon Mühe, jemanden zu finden, der dagegen ist. Nach 15 Minuten Vorbereitungszeit in Kleingruppen trafen am Ende 4 bis 6 SchülerInnen (je nach Klasse und Modell) in der direkten Debatte aufeinander. Und die offenbarte in ihrem Verlauf schon, dass am Ende vielleicht doch nicht das beste Argument, sondern eher vielleicht die zugespitzte Meinung gewinnt. So meinte ein Schüler auf das Kontra eines Kontrahenten, dass auch der Terrorist bei Folter ums Leben kommen könne: „Ein Menschenleben wäre zu verkraften.“ Wobei im gleichen Wortlaut dann vom Gegenüber kam: „Stimme ich dir voll zu, aber…“, bis dann einer in der Runde gleich einwarf, ob es überhaupt darum gehe, dass nur ein Einzelner zu Schaden komme. Jetzt war die Debatte wieder „geöffnet“ und es ging tatsächlich um die Frage, ob Folter ein legitimes Mittel des Rechtsstaates sein darf.

Gebt der Debatte eine Chance

Was zeigt uns dieser kurze Ausschnitt aus dem Unterrichtsalltag? Debattenkultur muss erst einmal gelernt, kann aber auch sehr spannend sein. Die Schülerinnen und Schüler lernen dabei nicht nur, wie man mündlich gut argumentiert, sondern auch Gespräche, die vielleicht in eine falsche Richtung gehen, wieder in eine richtige zu lenken, auf ihren Gesprächspartner einzugehen, deren Sichtweise einzunehmen, um sie für die eigene Argumentation zu nutzen. Allein das ist es wert, auf ein Comeback der Debatte zu setzen, sich dafür Zeit zu nehmen.

(Hannes Bräu)