Als in den 1990er Jahren das Mountainbike in Europa seinen endgültigen Durchbruch erfuhr, gab es kaum jemanden, der nicht einen der neuen schicken und vor allem leichten Räder in seiner Garage stehen hatte. Rauf auf den Berg und schnell wieder runter. Normales Wandern schien ins Abseits zu geraten und ja, es gab die ersten Misstöne zwischen denjenigen, die die Berge zu Fuß erklommen und denjenigen, die die Wege mit den Rad absolvierten. Auch was die Wettbewerbsszene anging, gab es einen regelrechten Boom. Große MTB-Klassiker entstanden. Gerade im Alpenraum nahmen tausende Teilnehmer vom Profi bis zu Amateuren teil. Anfang der 2000er Jahre erlebte dieser Boom seinen vorzeitigen Höhepunkt. Auch hier in der Werdenfels-Region gab es hochkarätige Rennen in Oberammergau und vor allem Garmisch-Partenkirchen, das jährlich ein Wochenende dem „Bike-Marathon“ widmete mit verschiedenen Rennen, ganz viel Show und tausenden Besuchern.
Das Aufkommen des E-Bikes zerstört die klassischen MTB-Events
Mit dem Aufkommen des E-Bikes wenige Jahre später und dessen endgültigen Durchbruch Mitte der 2010er-Jahre sterben langsam aber sicher die Mountainbike-Rennen. „Enduro“ wird spannend. Die Athleten fahren jetzt nicht mehr lange Anstiege, sondern einzelne Etappen, auf denen ein Mix aus Cross-Country und Downhill geboten wird. Egal, welche Disziplin man nimmt: Es geht meist ums Bergabfahren. Auch in den Alpen entstehend mehr und mehr Bikeparks. Ums Rauffahren geht es eigentlich gar nicht mehr. So schnell und so spektakulär runter wie möglich heißt jetzt die Devise. „Trails“ sind das neue Schlüsselwort, extra angefertigte Strecken für Radfahrer, die sich unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden den Berg runterstürzen (Kategorien S1, S2 oder S3).
Trail-Tristesse im Werdenfelser Land
Während Oberammergau mit seinem Bikepark in der Region schon immer erfolgreich Vorreiter war, herrscht, was „Trails“ angeht, im Werdenfelser Land Tristesse. Erst 2024 ist der Bike-Club Mittenwald mit seinem Antrag gescheitert, einen Flow-Trail am heimischen Kranzberg zu unterhalten. Der Naturschutz steht diesen Projekten entgegen, aber auch andere Vorstellungen von Tourismusgruppen. Vielleicht auch ein wenig fehlende Erfahrung auf Seiten der Entscheider, der Verantwortlichen, was Trailprojekte und Bike-Parks im Ausland angeht. Denn in Österreich, Italien und der Schweiz zeigt sich schon lange, wie man erfolgreich Tourismus, Sport und Naturschutz unter einen Hut bringen kann. Wir vom Blog im Blauen Land haben an Pfingsten 2025 zwei Regionen unter die Lupe genommen, die für den „modernen“ Mountainbike-Sport stehen, aber genauso klassischen Tourismus-Regionen sind.
Vorreiter Latsch in Südtirol – Mekka der anspruchsvollen Trails
Etwa 3 Stunden fahrt von Murnau entfernt liegt die Gemeinde Latsch im Vinschgau, dem westlichen Teil Südtirols. Und wer Latsch hört, der denkt als allererstes an steile Trails und weite Bergtouren. Vor mehr als 18 Jahren hat man hier schon Trails für MTBs gebaut. Lange bevor dieser Boom Deutschland erreicht hat. Wer dabei den „Sonnenberg“ von Latsch mit der St. Martin-Bahn hochfährt, der findet auch direkt sehr anspruchsvolle Trails im Bereich S2 und S3. Nichts für Anfänger und ja, wer die Dinger richtig runterfährt, der wird wohl mit dem ein oder anderen Materialschaden rechnen müssen. Aber auch an diesem Berg wird klar, wie die Gemeinde ein Nebeneinander von Natur, Tourismus und Sport schafft. Wer mit der Bahn die 1000 hm inklusive Bike fahren möchte, der kann das nur zu bestimmten Zeiten und am Nachmittag auch nur für geführte Touren. Somit vermeidet man eine „Übervölkerung“ des Berges und zu viel „Anarchie“ durch Biker. Latsch ist in weiten Teilen aber fast nur etwas für Experten. Wer eine Tour mit Einsteigerpotenzial machen will, der nimmt sich am besten den Latscher Trailzauber vor. Gute 30 Kilometer in schattigem Gelände. Einige Abschnitte muss man rauf, aber es geht auch gut runter. Vor einigen Jahren war dieser Trail mal mit einem S1 für Anfänger kategorisiert worden. Mittlerweile muss man sagen: S2 ist hier angemessen. Es gibt viele Stellen, die eher einem Steig ähneln. Richtig „flow“ kommt erst am Ende auf, wenn man auf die Burg Obermontani zurollt. Und trotzdem bleibt die Strecke ein Klassiker, die auch zeigt, wie man Wanderer und Mountainbiker zusammenbringt. In Latsch sind überall Wege mit Trail-Tolerance ausgeschrieben. Ein Begriff, der in Deutschland wohl eher ein Fremdwort ist. Wanderer und Radfahrer auf einem Weg? Unvorstellbar, aber es klappt – nicht nur auf dem Latscher Trailzauber

Geheimtipp Piombino
Für unseren zweiten Stopp muss man dann schon ein wenig länger im Auto sitzen. Piombino in Italien ist eigentlich weniger fürs Mountainbiken bekannt, als viel mehr für seinen Hafen, der eine Verbindung zu eine der beliebten Mittelmeer-Inseln Elba, Korsika oder Sardinien herstellt. An der etruskischen Küste gibt es zudem die schönsten Strände und sauberes, klares Meerwasser. Wer will jetzt Radfahren? In den Bergen hinter Piombino gibt es aber fast 200 Kilometer Trails und unzählige Möglichkeiten. Wer dort mit dem Rad unterwegs ist, sollte fast eine App wie Komoot dabei haben. Verirren ist hier menschlich. Fast überall zweigen wieder neue Wege ab, gibt es andere Trails, die irgendwo hinführen. Das Terrain ist trocken und oft mit einem „Flow“ behaftet. Im Kombination mit einem Blick aufs Mittelmeer und Elba ein super Sporterlebnis. Wenige Wanderer, die aber freundlich schauen, wenn sie einen MTB-Fahrer sehen, auch mal Platz machen. Hier muss es keine „Trail-Tolerance“ geben, sie wird einfach gelebt. Größtes Plus rund um Piombino: die Abwechslung. Für fast jedes Anspruchsniveau gibt es Abfahrten. Das Terrain könnte unterschiedlicher kaum sein: Asphalt, Forststraße, Trails in S1 und S2, abschüssig oder mit Flow – alles dabei. Diese Region bleibt ein Geheimtipp.



Was bleibt von den Eindrücken? Es mag Regionen geben in Deutschland, die sich der Zukunftssportart Radfahren verschrieben haben. Das Werdenfelser Land gehört wohl eher nicht dazu. Wer Abwechslung und einsame Trails sucht, der muss auf andere Regionen ausweichen. Und zum Glück sind die gar nicht so weit entfernt.
(Hannes Bräu)