Sechs Jahre können eine verdammt lange Zeit sein. Lang genug, um viel zu vergessen. Lang genug, dass Leidenschaften einschlafen, Präferenzen sich ändern, sich ganze Lebensrichtungen auf den Kopf stellen. Am Ende bleibt nur, was einen wirklich überzeugt, geprägt hat. Poetry Slam war schon immer mein „liebstes Kind“, seitdem ich an der Uni mit viel Akribie und Praxis meine Examens-Zulassungsarbeit über dieses so anders dahergekommene literarische Veranstaltungsformat geschrieben habe. Weg vom Elfenbeinturm der Literatur, hin zu den Schülern, zur Praxis, zum Slam. Literatur für alle, von allen und nur auf der Bühne, nicht in schnöden Büchern. Dabei ist Poetry Slam gemein genommen keine Literatur. Es ist eine vollkommene, literarische Kunst, die alle Sinne fordert und doch so einfach ist.

Über die Jahre wurde aus einer theoretischen Hochschularbeit schulische Praxis in einer Seminararbeit, in zahlreichen Projekten, Poetry-Slam-Besuchen und Unterrichtssequenzen. Bis, ja, bis Corona im März 2020 dieser Unterrichtsliebe ein Ende setzte. Kurz, aber schmerzhaft. Mebis statt Bühne. Kontaktsperre. Wer heute noch glaubt, nur digitale Medien bereichern den Unterricht, machen alles besser, moderner, der irrt gewaltig. Nur langsam schaffte es Poetry Slam aus diesem Tal wieder in mein Rampenlicht. Ein paar Unterrichtssequenzen, 2022 sogar Klassenslams mit Abstand und Mundschutz. Immer etwas. Aber es blieb oberflächlich.

Bis jetzt. Eine Unterrichtssequenz zum Thema Poetry Slam zu machen, ohne dieses Veranstaltungsformat jemals live erlebt zu haben, ist einfach nur die halbe Miete. Seit 2018, seit 6 Jahren war das gang und gebe. Alltag. Jetzt musste einfach was passieren. Ein Anruf beim Volkstheater München und schon war es geschehen: 28 Tickets für einen Live-U20-Slam in München während einer Unterrichtssequenz zum Thema. Genial. Nach so langer Zeit. Was würde wohl anders werden? Wie sind die Texte? Wie reagieren die Schüler? Tja, anders war vor allem: die Anreise mit dem Zug. Anders als noch vor sechs Jahren ist es fast unmöglich, ein Busunternehmen zu finden, das einen mit Klasse am besagten Termin einen Bus oder einen Fahrer stellen kann. Bezahlbar ist das alles auch nicht mehr. Also die Alternative Zug. Früher los, länger unterwegs. Für einen beschäftigen Familienvater kein optimales Unternehmen. Für einen Großteil der Schüler: eine große Gaudi, die noch dazu meist kostenlos ist. Das Geheimnis heißt: Deutschlandticket. Auch vor sechs Jahren noch undenkbar.

Der U20-Slam auf der Volkstheater-Bühne in München ist eine Institution. In regelmäßigen Abständen werden hier Sieger unter jungen Slammern gekürt. Veranstalter und Moderator ist Ko Bylanzky, der im bayerischen Raum Kultstatus genießt und dabei ist, seitdem es Slam in Deutschland eigentlich gibt. Also seit Mitte der 1990er Jahre. Gekonnt leitet er mit einer Gastmoderatorin durch den für Poetry-Slam-Verhältnisse doch recht kurzweiligen Abend, der junge Slammer am Mikro zeigt, die textsicher sind, ein ordentliches Grundniveau aufweisen und auch beweisen: Die Slam-Poetry folgt der Freiheit der Kunst, kann aber auch Spiegelbild der heutigen Welt, der gesellschaftlichen Lage sein. Gleich drei Texte behandelten direkt oder indirekt das Thema Krieg, wollen Frieden und dass sich alle anderen auch selber irgendwie liebhaben. Gerade beim letzten Slammer, Sebastian Widder, hätte man noch so viel anderes erwartet – aber keinen Krieg. Die Jury – fünf zufällig ausgewählte Gäste mit Notenkarten von 0 bis 10 – entschied sich am Ende für die Slammerin Luluschca, die knapp vor Daniel Eckert und Maxi Maier gewann.

Bühne 2 des Volkstheaters in München: Schauplatz des U20-Slams Foto: Bräu

Vor allem Anfang des Jahrhunderts bis vor einigen Jahren äußerten Insider der Szene Bedenken, Poetry Slams könnten zu “Comedy-Veranstaltungen” werden. Ein Lacher nach dem anderen, bei dem poetische und nachdenkliche Texte keine Chance mehr haben. Diesen Bedenken kann man leicht entgegnen: Lasst euch überraschen. In München war nur ein komischer Text dabei, Daniel Eckerts witziger Schuss auf seine 20 Jahre. Sprachlich aber auch gehoben. Alle anderen verloren sich in selbst reflektierenden Texte oder gesellschaftlichen Themen. Auch gut, vielleicht manchmal schwere Kost für Schülerinnen und Schüler der 8. Klasse aber am Ende vor allem eines, auf das ich 6 Jahre lang gewartet hatte: ehrliche Literatur, live und ungeschminkt.

(Hannes Bräu)

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